Gepostet 05.12.2024, getAbstract
Neurodiversität bietet Unternehmen einen strategischen Vorteil. Menschen mit neurodivergenten Fähigkeiten, wie Autismus oder AD(H)S, bringen einzigartige Perspektiven ein. Damit sich das Potenzial entfalten kann, sind gezielte Förderung und eine inklusive Unternehmenskultur gefragt.
Dass Unternehmen in mannigfacher Weise von Diversität profitieren, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Was aber im deutschsprachigen Raum weniger klar ist: Diversität fängt bei der Art zu denken an, und zwar ganz unabhängig von Geschlecht oder kulturellem Hintergrund. Der Begriff «Neurodiversität» beschreibt den Umstand, dass es Menschen gibt, deren Art zu denken deutlich von der Norm abweicht – und das betrifft nicht wenige: die Wissenschaft geht davon aus, dass etwa jede fünfte Person sehr spezielle kognitive Stärken (und auch Schwächen) hat. Umso wichtiger ist es, dass Unternehmen diese Tatsache verstehen und lernen, diese Mitarbeitenden richtig einzusetzen.
Wenn man auf Amazon nach deutschen Büchern zum Thema Neurodiversität sucht, fällt die Ausbeute mager aus: ein paar Erfahrungsberichte von Leuten mit AD(H)S oder Autismus und einige Pädagogik-Fachbücher. Selbst die Rechtschreibprüfung von Microsoft Teams schlägt beim Wort «Neurodiversität» die Verbesserung «Neurodermitis» vor – und das, obwohl Microsoft sich seit 2016 öffentlich für Neurodiversität engagiert. Wer also nicht persönlich, also über sein direktes Umfeld oder seinen Lehrberuf mit dem Thema in Berührung kommt, tut es vermutlich nie. Deshalb zuerst eine kurze Begriffsklärung:
Diese Menschen werden als neurodivergent bezeichnet. Es ist also falsch zu sagen, eine einzelne Person sei «neurodivers» – so wie ein einzelner Mensch auch nicht «divers» sein kann. Neurodivers sind Gruppen, Belegschaften, Teams.
Davon abzugrenzen sind neurotypische Menschen, die die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen.
Generell gilt, dass wir alle etwas unterschiedlich denken und somit die gesamte Bevölkerung als neurodivers gelten kann. Es gibt jedoch einige sogenannte Entwicklungsstörungen, die neurodivergente Menschen aufweisen. Warum der Begriff «Störung» hier falsche Assoziationen hervorruft, darauf werden wir später eingehen. Erst mal eine kleine Übersicht über die bekanntesten Entwicklungsstörungen, die typischerweise in den Bereich Neurodiversität fallen:
Autismus: Autistische Menschen nehmen die Welt anders wahr. Sie haben oftmals Mühe, sich in andere hineinzuversetzen, Stimmungen zu erkennen, «angemessen» zu kommunizieren, Situationen ganzheitlich zu erfassen. Sie verlieren sich oft in Details, haben Schwierigkeiten, mit Veränderungen umzugehen, und reagieren in vielen Fällen auffällig (stark oder schwach) auf bestimmte Sinneswahrnehmungen. Bei alledem ist es wichtig zu verstehen, dass es rund um Autisten viele Stereotype gibt. Autismus kann sich ganz unterschiedlich äussern, die Symptome können manchmal auch so schwach sein, dass wir sie von aussen kaum wahrnehmen. Man geht heute davon aus, dass mindestens 1% der schweizerischen Bevölkerung im Autismus-Spektrum ist.
Dyslexie: Menschen mit Dyslexie können keine einzelnen Buchstaben oder Worte lesen, vertauschen Buchstaben und verstehen das Gelesene oft nicht. Von der Dyslexie zu unterscheiden ist die Lese-Rechtschreib-Schwäche (Legasthenie), die ein Lerndefizit und keine Entwicklungsstörung ist. Anders als bei der Dyslexie können Betroffene hier durch intensives Lernen eine Verbesserung erreichen. In der Schweiz können über 5% der erwerbsfähigen Bevölkerung nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben.
Gerade Dinge wie eine Dyskalkulie oder Dyslexie werden oft mit mangelnder Intelligenz verbunden. Das ist jedoch falsch. Entwicklungsstörungen müssen keineswegs mit einer Intelligenzminderung einhergehen. Auch das Wort «Störung» wird inzwischen sehr kritisch gesehen, weil damit die Probleme und Schwierigkeiten, die Betroffene haben könnten, unverhältnismässig stark betont werden.
Für Unternehmen ist es deshalb wichtig, neurodivergente Personen nicht als defizitär zu betrachten, sondern zu verstehen, dass sie schlicht eine andere Art haben, Dinge wahrzunehmen, zu denken und zu arbeiten als die meisten Menschen.
Das bedeutet auch, das eigene Weltbild zu hinterfragen und sich von einer instinktiven qualitativen Bewertung «anderer» Ansichten zu lösen. Das ist nicht immer einfach, kann jedoch, ebenso wie die passgenaue Beschäftigung neurodivergenter Personen, enorme Vorteile mit sich bringen.
Leute mit AD(H)S etwa können sich bei Interesse nicht nur überdurchschnittlich gut konzentrieren (auch positiver Hyperfokus genannt), sie können durch den verschobenen Wahrnehmungsfokus auch kreativer und innovativer denken, weil sie andere Assoziationen haben. Wenn sie ein Thema einmal verstanden haben, sind sie besonders gut darin, bei Veränderungen neue Lösungen zu finden.
Auch Leute mit Autismus können überdurchschnittliche Leistungen erbringen. SAP hat ein Programm speziell für Bewerber mit Autismus. Als die Firma damit begann, erhielt sie Bewerbungen von Leuten mit Masterabschlüssen in Elektrotechnik, Biostatistik und Wirtschaftsstatistik. Einige Bewerber hatten sogar zwei Abschlüsse, schlossen sie mit Auszeichnungen ab – und eine Person hatte sogar ein Patent. Diese Leute hätten sich auf eine «normale» Stellenausschreibung wahrscheinlich nicht gemeldet – und SAP gelang es auf diesem Weg, einen völlig neuen Talentpool zu erschließen.
Ein cleverer Schachzug, denn: Die Forschung zeigt, dass Leute mit Dyslexie oder Autismus zwar ihre bestimmten Schwächen haben, gleichzeitig aber in anderen Bereichen wie Mustererkennung, Erinnerung oder Mathematik oft besondere Stärken ausbilden. Neurodiverse Teams können einer Studie zufolge 30% produktiver sein als Teams, die ausschliesslich aus neurotypischen Mitarbeitenden bestehen.
Dadurch, dass Mitarbeitende in neurodiversen Teams gezwungen sind, Probleme ganz anders zu betrachten, ihre Kommunikation zu überdenken und neue Herangehensweisen an Probleme zu finden, wird das Team als Ganzes zudem kreativer und innovativer.
Abgesehen davon profitieren nicht nur neurodivergente Menschen von einer inklusiven Arbeitsumgebung: Wenn Informationen möglichst einfach und zugänglich aufbereitet werden, flexible Arbeitszeitmodelle oder Homeoffice-Regelungen eingeführt oder Softwarelösungen zur Spracherfassung zur Verfügung gestellt werden, hilft das allen Mitarbeitenden.
Wer in der Schule erfolgreich ist oder später Karriere macht, das bestimmt zumeist die neurotypische Mehrheit. Dabei geht allerdings eine Unmenge an Potenzial verloren: Stand 2023 sind etwa 30 bis 40% neurodivergenter Menschen arbeitslos.
Um dieses Potenzial in Ihrem Unternehmen zu nutzen, ist es wichtig zu verstehen, wo neurodivergente Menschen Unterstützung benötigen.
Das US Job Acommodation Network hat herausgefunden, dass 59% der häufigsten Anpassungen, die ein Unternehmen für neurodivergente Menschen vornimmt, keine Zusatzkosten bedeuten.
Wenn Sie den Entschluss gefasst haben, Ihr Unternehmen in Bezug auf Neurodiversität zu überdenken, dann sind Sie damit nicht allein: SAP, Hewlett Packard Enterprise (HPE), Microsoft, Willis Towers Watson, Ford und viele weitere haben ihre HR-Prozesse bereits so verändert, dass speziell auch neurodiverse Talente angesprochen und miteinbezogen werden.
Dass so grossen Unternehmen solche Anpassungen nicht aus reiner Herzensgüte vornehmen, dürfte klar sein. Vielmehr wird immer mehr Organisationen klar, dass sie auf die einzigartigen Fähigkeiten einzelner neurodivergenter Individuen sowie die Produktivität und Innovation neurodiverser Teams angewiesen sind, um in Zeiten des Fachkräftemangels gegen die Konkurrenz zu bestehen.
Dieser Artikel wurde uns freundlicherweise von getAbstract (Autorin: Belén Haefely) zur Verfügung gestellt.