Gepostet 01.09.2017, Ronny Arnold
Die Digitalisierung ist allgegenwärtig in der Berufswelt. Zahlreiche Branchen sind ohne Anpassung gefährdet. Im Interview gibt die Direktorin vom Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung (EHB) Prof. Dr. Cornelia Oertle Auskunft über die Chancen und Gefahren.
Frau Oertle, eine Studie des WEF rechnet mit dem Verlust von bis zu 5 Millionen Arbeitsplätzen in den Industrieländern. Wie beurteilen Sie diese Zahlen?
Letztlich sind das alles Schätzungen. Wie sehr die Digitalisierung unsere Arbeitswelt verändern wird, kann heute kaum jemand voraussagen. Klar ist: Sie kostet uns nicht nur Arbeitsplätze, sie bringt uns auch neue. Bis jetzt zeigen sich die Verluste nicht, obwohl die Veränderungen ja längst eingesetzt haben. Sicher aber stellt der digitale Wandel für den Arbeitsmarkt und damit auch für die Berufsbildung eine grosse Herausforderung dar; die ist auch für uns vom EHB zentral. So planen wir ab Herbst 2019 ein neues Bachelor-Studium zur Digitalisierung und ihren Auswirkungen auf die Berufswelt.
Gibt es Jobs, die vor der Digitalisierung sicher sind?
Wenig Sorgen machen muss sich, wer im Job kreativ oder stark analytisch arbeitet, und auch wer einen Job hat, der viel anspruchsvollen Austausch mit andern verlangt – zu all dem sind Maschinen heute noch kaum fähig. Das kann sich aber auch ändern. Wer sagt uns, was Maschinen in 100 Jahren alles können?
Welche Auswirkungen der Digitalisierung spüren wir bereits heute?
Greifbar ist die Digitalisierung in der Arbeitswelt für uns alle schon jetzt vielfach: Wir lösen Tickets online oder an Automaten, in der Industrie übernehmen zunehmend Roboter Fliessbandarbeiten, und auch Bauern setzen auf digitale Hilfsmittel, um die Abläufe auf ihren Höfen zu optimieren – um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Gibt es Veränderungen, die wir bereits in den kommenden Jahren erwarten?
Das ist schwer vorausschaubar. Wir wissen zwar, woran technisch gearbeitet wird, aber wir wissen nicht, wann diese Technologien wirklich ausgereift sind und auch breit genutzt werden. Die technologischen Voraussetzungen für WhatsApp zum Beispiel gab es schon lange bevor WhatsApp populär geworden ist. Seither schreibt kaum jemand noch SMS. Ob fürs Foto oder Video von der Bergtour, den nächsten Termin für ein Feierabendbier oder um jemandem zum Geburtstag zu gratulieren – heute ist WhatsApp für viele als Kommunikationsmittel aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken.
Was ist eigentlich digitale Bildung?
Dies lässt sich grundsätzlich auf drei Ebenen beschreiben:
Erstens verändert sich in vielen Berufen der Alltag, weil sich manches mit Hilfe digitaler Instrumente erledigen lässt. Die Berufsausbildungen müssen entsprechend angepasst werden, damit die Berufsleute für diese neuen Herausforderungen fit sind.
Zweitens werden Bildungsinhalte vermehrt mit digitalen Lehrmitteln vermittelt. Damit verbunden ist auch eine neue Didaktik. Wer in der Berufsausbildung tätig ist, muss sich entsprechend weiterbilden, um mit diesen digitalen Hilfsmitteln umgehen zu können.
Drittens heisst digitale Bildung auch, Kompetenzen im Umgang mit den neuen Medien zu vermitteln. Längst nicht alle Jugendlichen haben dieses technische Knowhow einfach so, obwohl das eine verbreitete Annahme ist. Zudem ist es auch eine Aufgabe der Berufsbildung, junge Menschen für einen kritischen und reflektierten Umgang mit den neuen Medien zu sensibilisieren, so zumindest sehen wir das am EHB.
„Die Digitalisierung bringt uns auch neue Arbeitsplätze.“
Wie sieht digitale Bildung in der Praxis aus?
In der Praxis sieht das zum Beispiel so aus, dass mittels einer Lernplattform die verschiedenen Lernorte in einer Berufsausbildung besser miteinander vernetzt sind. Das EHB entwickelt dafür derzeit zusammen mit der EPFL in Lausanne und der Universität Freiburg im Rahmen des Projekts Realto Instrumente. Ein anderes Beispiel sind die Köche. Ihr Grundlehrbuch, an dessen Entwicklung auch wir vom EHB beteiligt gewesen sind, ist neu digital. Oder noch ein Beispiel: Wer auf einer Bank eine kaufmännische Ausbildung macht, erhält in den überbetrieblichen Kursen kein Papier mehr, es läuft alles digital. Das sind erste Schritte, vieles muss sich weiter entwickeln.
Welche Kompetenzen sind mit Aus- und Weiterbildungen hauptsächlich zu fördern?
Die Fachkompetenzen bleiben wichtig. Klar braucht es auch mehr Knowhow zu digitalen Vorgängen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen künftig aber vor allem mehr als bisher damit umgehen können, dass sich ihr Beruf schnell verändern kann. Sie müssen flexibel sein. Das Wichtigste ist diese Offenheit für Neues, doch die lässt sich nicht einfach rasch erlernen. Es ist eine Lebens- und Berufshaltung, die immer wieder trainiert werden muss. Flexibilität, Offenheit, Kreativität und soziale Kompetenz sind gefragt. Am besten ist es, diese Fähigkeiten ganz konkret im Berufsalltag zu stärken.
Welche Chancen bietet die Digitalisierung für die Schweiz?
Wir haben viele hoch qualifizierte Berufsleute und eine gute Infrastruktur. Das sind gute Voraussetzungen, um mit den Entwicklungen hin zu einer stärker digitalisierten Berufswelt Schritt halten zu können.
„Flexibilität, Offenheit, Kreativität und soziale Kompetenz sind gefragt. „
Was sind die positiven Auswirkungen der Digitalisierung für uns?
Dank digitaler Lösungen fallen oft mühsame, eher langweilige Tätigkeiten weg. Zudem werden für Kundinnen und Kunden viele Dienstleistungen besser – wir können heute zum Beispiel rund um die Uhr online shoppen und auch viel anderes erledigen. Es entstehen auch ständig neue Produkte, die uns den Alltag erleichtern, und für die oft digitale Technik entscheidend ist: zum Beispiel bessere Smartphones, bessere medizinische Geräte, oder Autos, die dank Assistenzsystemen sicherer sind. Vieles lässt sich zudem auch effizienter produzieren als bisher.
Abschliessend noch ein konkretes Beispiel: Ein Möbelschreiner soll besonders gefährdet sein, vom Roboter abgelöst zu werden. Wie gelingt es zu verhindern, dass in ein paar Jahren solche Menschen auf der Strasse stehen? Was kann bereits heute vorsorglich unternommen werden?
Der Möbelschreiner ist nur mittelmässig gefährdet. Der technische Fortschritt ersetzt zwar immer gewisse Prozesse, aber der Mensch wird dadurch nicht unbedingt überflüssig. Wenn die Möbel aus dem 3D-Drucker kommen, braucht es ja zum Beispiel auch wieder jemanden, der sie designt. Hat ein Schreiner in Zukunft nur handwerkliches Können, wird er es wohl tatsächlich schwer haben. Hat er aber auch eine Ahnung davon, was mit Holz alles möglich ist, was für Verarbeitungstechnologien es gibt, und welche Bedürfnisse die Kundschaft hat, sieht es für ihn nicht mehr so düster aus. Wichtig ist: Auch die Schreinerausbildung muss aktuell sein und neuen Entwicklungen laufend Rechnung tragen. Dann wird der Möbelschreiner künftig davon profitieren, wenn sich Möbel effizienter herstellen lassen.
Das EHB ist die schweizerische Expertenorganisation für Berufsbildung. Es bildet Berufsbildungs-Verantwortliche aus und weiter, forscht über die Berufsbildung, entwickelt Berufe weiter und unterstützt die internationale Berufsbildungszusammenarbeit. Das EHB hat Standorte in Lausanne, Lugano, Olten, Zollikofen bei Bern und Zürich.