Gepostet 21.12.2015, Myriam Arnold
Wer sich gerne abseits der Piste aufhält, dem sollten die Grundkenntnisse in Lawinenkunde geläufig sein. Der Grundkurs Lawinen vermittelt Wissen, das nicht nur im Notfall über Leben und Tod entscheiden kann.
Kein Sessellift, kein Pisten-Restaurant und keine Rowdys mit ihren Carving-Skis. So weit das Auge reicht nur wahre, endlos scheinende Natur. Samuel nimmt einen tiefen Atemzug frischer Bergluft. Der Aufstieg kostete ihn Kraft. Dafür bekommt er jetzt seine Belohnung: die bevorstehende Abfahrt. Vor Samuels Skispitzen liegt der steile Berghang, der mit einer weissen, noch unberührten Schneedecke überzogen ist. Hinter ihm ragen Felswände noch weiter gegen den Himmel, die einen langgezogenen Schatten auf den Hang werfen. Einmal kräftig mit den Skistöcken abgestossen, nimmt Samuel Fahrt auf. Seine Skitouren-Kollegen folgen ihm. Zusammen hinterlassen sie wellenförmige Spuren im Pulverschnee.
Den Wunsch nach unberührter Bergnatur, nach Freiheit und nach dem ganz speziellen Kick hegen immer mehr Menschen in der Schweiz. Seit zwei Jahren ist alles im Trend, was sich neben der Piste abspielt. Dies bestätigt Markus Wey, technischer Leiter der Mammut Alpine School. „Die Anziehungskraft der Berge ist gross“, meint der 55-jährige Bergführer. 1980 verfiel auch er dem Lockruf der Berge und zog von der Stadt Zürich nach Andermatt. Dort stieg er bei der Bergschule Uri ein, die seit Juni 2015 Teil der Mammut Alpine School ist.
„Die Anziehungskraft der Berge ist gross.“
Ob mit Schneeschuhen oder Tourenskis, wer im winterlichen Gebirge abseits der Piste unterwegs ist, muss sich hüten vor Steinschlägen, Tieren und natürlich Lawinen. „Tourenski fahren ist etwas Wunderschönes“, sagt Wey und relativiert sogleich, „aber nur, wenn es in einer möglichst sicheren Umgebung betrieben werden kann.“ Eine hundertprozentige Sicherheit gebe es dabei aber nicht. Die Natur kann nun mal nicht vollends kontrolliert werden. Wer aber ihre Warnzeichen richtig lese, könne das Risiko eines Lawinenunfalls klein halten.
Um welche Warnzeichen es sich handelt, erfahren Kursteilnehmende im Grundkurs Lawinen. Im zweitägigen Kurs lernen sie zudem die Wichtigkeit der Vorbereitung auf eine Skitour kennen. Denn schon am Vorabend können Warnzeichen identifiziert werden. „Die Route sollte man stets unter Einbezug der Verhältnisse wie beispielsweise der Lawinensituation oder der Wettervorhersage festlegen“, rät der erfahrene Bergführer. Auch das Gelände, das man während der Tour begehen möchte, und die Menschen, die mitkommen werden, spielen gemäss Wey in die Wahl der Route mit ein. „An diesem Punkt der Planung legt man bereits die Weichen für eine sichere Tour.“
Das Abwägen der Verhältnisse, des Geländes und der an der Tour teilnehmenden Personen am Vorabend und dann nochmals vor dem Tourenstart am Morgen sowie am jeweiligen Einzelhang sind die zentralen Elemente des sogenannten „Lawinen 3 x 3“. Diese Strategie wird den Kursteilnehmenden während der Schulung an die Hand gegeben. „Jeder Einzelhang muss neu beurteilt werden, ob und wie er begangen und befahren werden soll“, verrät der 55-Jährige. „Wenn es die Situation zulässt, lassen wir die Kursteilnehmenden vorausgehen und die Entscheidungen fällen. Wir übertragen ihnen stückweit die Verantwortung für die Gruppe.“ Dies sei dank der Gruppengrösse von fünf bis acht Personen möglich.
Trotz Vorsichtsmassnahmen, wie sie das „Lawinen 3 x 3“ beinhalten, können Lawinenunfälle passieren. Dann entscheiden Sekunden über Leben und Tod. Die Überlebensrate eines Verschütteten nimmt nach 15 Minuten rapide ab. „Nur wer den Ablauf der Rettung in dieser kurzen Zeit regelmässig trainiert, kann schnell richtig handeln“, sagt Wey. Der Umgang mit der Notfallausrüstung wie dem Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS), der Schaufel und der Sonde sind deshalb ebenfalls Bestandteil des Kurses. „In unserem Sport kommt im Notfall die Kameradenrettung zum Zug. Es ist deshalb zentral, dass jeder eine intakte Ausrüstung auf sich trägt und weiss, wie sie angewendet wird“, so der Andermatter. „Unter Umständen ist man der Einzige, der nicht von der Lawine erfasst wurde. Es liegt somit an einem selbst, seine Kameraden zu bergen.“
„Nur wer den Ablauf der Rettung in dieser kurzen Zeit regelmässig trainiert, kann schnell richtig handeln.“
Die Mammut Alpine School will mit ihrem Grundkurs Lawinen vor allem das Bewusstsein für die Herausforderungen stärken, die Wintersportler abseits der Piste erwarten. „Wir wollen nicht Angst verbreiten, aber es ist wichtig, Respekt zu haben“, unterstreicht Wey. Für die Leitertätigkeit motiviert ihn auch sein privates Engagement mit seinem Lawinenhund. „Ich möchte Leute schulen, um Lawinenunfälle, wie ich sie schon erlebt habe, zu verhindern.“
Wer den Grundkurs Lawinen besucht hat, kann das Zertifikat Swiss Mountain Training nach den Qualitäts- und Sicherheitsstandards des Schweizerischen Bergführerverbandes beantragen. Dieses Zertifikat ist prüfungsfrei erwerbbar und in gewissen Ländern Voraussetzung, um eigenständig Skitouren zu unternehmen.
Der Grundkurs Lawinen richtet sich an alle Tourenskifahrer, die mehr über Lawinenkunde erfahren und somit die eigene Fachkompetenz ausbauen oder selbstständig einfache Skitouren ohne Bergführer bestreiten möchten. „Selbstverständlich sind auch jene willkommen, die sich einfach gerne im Schnee bewegen und neugierig sind“, ergänzt Wey. Denn eines sei klar, wer über die Grundkenntnisse in Lawinenkunde verfüge und die Zusammenhänge verstehe, der fühle sich sicherer. „Und so kann man den Aufstieg und die Abfahrt mehr geniessen.“